Muss ich wissen, was mir passiert ist, um zu heilen?

Meiner mehr als 11-jährigen Erfahrung mit den unterschiedlichsten Menschen und Geschichten nach, beantworte ich diese Frage mit Nein. Für manche Menschen ist es hilfreich, mit vergangenen Ereignissen zu arbeiten, für andere Menschen ist es unerträglich. Das kann sie daran hindern, sich Unterstützung zu suchen, weil sie Angst haben „da nochmal durchzumüssen“. 

Meine Erfahrung aus der therapeutischen Begleitung ist, dass die Gefühle, Gedanken oder Handlungen, die ich in meinen heutigen Situationen erlebe, tief gekoppelt sind mit dem, was ich als Kind oder Jugendliche:r erlebt habe. 

Wenn ich also eine „alte Wut“ oder einen „alten emotionalen Schmerz“ mit mir trage, sind die Wut oder die emotionalen Schmerzen, die ich heute erlebe, sowieso mit diesen „alten“ Gefühlen verwoben, ganz egal, ob ich weiß, wo sie herkommen oder nicht. 

Wenn ich es schaffe, die Gefühle von heute zu fühlen, zu transformieren und fließen zu lassen, dann kann sich das Erlebte von früher mit lösen. Ich reagiere auf bestimmte Trigger heute oft nur, weil es mich an Vergangenes erinnert.

Es geht um mein aktuelles Leben

Es geht um das, was ich jetzt/heute erlebe - in meinem aktuellen Leben. Ich möchte ja meine heutigen Situationen anders erleben und dann ist es im Grunde gleich, ob mir genau bewusst und bekannt ist, was ich in meiner Vergangenheit erfahren habe. Meine heutigen Gefühle sind zu einem guten Teil meine „alten“ Gefühle. 

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Ich liege am Strand und genieße die Ruhe und die Natur. Mein Liegenachbar macht dann laute Musik an und das stört mich. In mir werden Gedanken wach wie „Das ist total rücksichtslos!“ und ich werde sauer. 

Wenn ich es jetzt in dieser Situation meines aktuellen Lebens schaffe, meine Wut, den Hass oder was auch immer auftaucht, zu fühlen und fließen zu lassen, fühle ich mich gestärkt und ruhiger - Wut ist eine sehr körperliche Energie - und kann freundlich darum bitten, die Musik leiser zu machen.  

Vielleicht erlebe ich die Wut heute so, weil sich z.B. meine Mutter oft rücksichtslos verhalten hat und ich mich nicht gesehen gefühlt habe. Für das Erleben und Ändern dieser aktuellen Wut muss ich das aber nicht wissen und muss auch nicht in das frühere Ereignis emotional reingehen.

Deshalb arbeite ich vorwiegend mit aktuellen Erlebnissen meiner Klientinnen und Klienten, es sei denn, sie wünschen sich etwas anderes.

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Wut: Worum geht es wirklich?